Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 07.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.12.2016 verurteilt, dem Kläger den Nachteilsausgleich „aG“ ab dem 06.04.2017 zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen notwendigen Kosten zu 2/3 zu erstatten.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei dem Kläger eine wesentliche Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes im Sinne des § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) eingetreten ist und bei ihm nunmehr die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens „aG" vorliegen.
Bei dem am 20.06.1982 geborenen Kläger, welcher unter einer geburtsbedingten spastischen Zerebralparese mit links betonter Tetraspastik leidet, wurde zuletzt mit Bescheid vom 08.01.2008 durch die Beklagte eine Behinderung im Sinne des SGB IX mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 80 ab dem 01.02.2008 festgestellt. Mit diesem Bescheid wurden ihm außerdem die zuvor festgestellten Merkzeichen „B" und „H" entzogen. Das Merkzeichen „G" blieb bestehen. Es wurden folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegt:
1. Spastische Cerebralparese (Einzel-GdB: 80)
2. Sehminderung (Einzel-GdB: 20).
Aufgrund des Antrags des Klägers auf Neufeststellung vom 24.11.2015, mit welchem er die Feststellung eines höheren GdB und die Zuerkennung des Merkzeichens „aG" verfolgte, leitete die Beklagte ein weiteres Feststellungsverfahren ein und wertete medizinische Unterlagen von den den Kläger behandelnden Ärzten aus. Mit Bescheid vom 07.07.2016 lehnte sie den Neufeststellungsantrag des Klägers unter Neufassung der Funktionsstörung zu 1. in „Spastische Cerebralparese, reaktive Depression" ab. Eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustands sei nicht zu erkennen. Insbesondere lägen die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG" nicht vor.
Der Kläger legte gegen diesen Bescheid am 21.07.2016 Widerspruch ein, welchen die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15.12.2016 als unbegründet zurückwies. Der Kläger könne nach den zugrundeliegenden Befunden mit und sogar ein paar Schritte ohne Zuhilfenahme eines Rollators zurücklegen.
Hiergegen richtet sich die am 19.12.2016 vor dem Sozialgericht Bremen erhobene Klage des Klägers, mit der er die Feststellung eines GdB von 100 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens „aG", hilfsweise „aG light" verfolgt. Es sei in den letzten Jahren eine erhebliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes eingetreten. Außerhalb der Wohnung sei er auch für Kurzstrecken auf einen Rollator angewiesen. Zudem habe er bereits vor Jahren einen Rollstuhl verordnet bekommen, auf welchen er stets ab einer Wegstrecke von etwa 200 Metern angewiesen sei. Die Breite eines normalen Parkplatzes würde nicht ausreichen, um aus seinem Fahrzeug auszusteigen und den Rollator auszuladen, da aufgrund des Ladekrans für den Rollator, bzw. Rollstuhl mehr Platz hinter dem Fahrzeug benötigt würde, der bei einem durchschnittlichen Parkplatz nicht gegeben sei. Zudem lasse sich der Rollator nicht zwischen parkenden Autos benutzen. Außerdem benötige er aufgrund seiner Behinderung einen größeren Radius beim Verlassen sowie Besteigen des Fahrzeugs. Hauptsächlich betreffe die Parese den Bereich der Beine, jedoch seien auch die Arme und Hände betroffen. Im Übrigen leide er unter rezidivierenden Kopfschmerzen, Verspannungen und Verhärtungen der Nackenmuskulatur bis zur Schulter.
Die Kammer holte Befundberichte von den den Kläger behandelnden Ärzten Dr. E. vom 06.12.2017 (Bl. 51 ff. d. A.), dem Dipl.-Psych. F. vom 10.12.2017 (Bl. 53 ff. d. A.), Dr. C. vom 22.12.2017 (Bl. 55 ff. d. A.), Dr. G. vom 27.12.2017 (Bl. 63 ff. d. A.) und von D. vom 04.01.2018 (Bl. 70 ff. a d. A.) ein.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.12.2016 zu verurteilen, bei dem Kläger einen GdB von 100 festzustellen sowie ihm das Merkzeichen „aG", hilfsweise „aG light" zuzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Bei dem Kläger liege zwar eine Gehbehinderung vor, jedoch nicht in erheblichem Umfang. Insofern entspreche die Gehbehinderung des Klägers nicht einer praktischen Gehunfähigkeit. Der Kläger gehe mit Pausen am Rollator. Auf die Benutzung eines Rollstuhls sei er nicht angewiesen. Eine Gleichstellung mit einem doppeloberschenkelamputierten Menschen sei nicht gerechtfertigt.
Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakten verwiesen, der zum Gegenstand der Entscheidungsfindung gemacht worden ist.
Die als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage statthafte und auch im Übrigen hinsichtlich des Hauptantrags zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 07.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.12.2016 erweist sich zumindest ab dem 06.04.2017 nachgewiesenermaßen als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat ab dem 06.04.2017 (Zeitpunkt der letzten Untersuchung durch die behandelnde Neurologin Dr. G., auf welcher der Befundbericht vom 27.12.2017 basiert) einen Anspruch auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs „aG", weil ab diesem Zeitpunkt eine wesentliche Verschlechterung seiner Gehfähigkeit nachgewiesen ist.
Rechtsgrundlage für den von dem Kläger gestellten Antrag ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Hiernach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Bei den Feststellungsbescheiden hinsichtlich der Zuerkennung eines GdB nach dem SGB IX handelt es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung.
Eine Änderung gegenüber den Verhältnissen, die dem Bescheid vom 08.01.2008 zugrunde lagen, ist feststellbar. Dies lässt sich zur Überzeugung der erkennenden Kammer den dem Verfahren zugrundeliegenden medizinischen Befunden sowie den glaubhaften Angaben des Klägers entnehmen, welche die Kammer der Entscheidung ebenfalls zugrunde legt.
Einen höheren GdB als 80 sieht die Kammer nach den vorliegenden Befunden hingegen nicht begründet. Die Festsetzung eines GdB von 80 mag im Hinblick auf die Vergangenheit großzügig bemessen gewesen sein, nun spiegelt sie die Beeinträchtigungen des Klägers in angemessener, aber auch ausreichender Weise wider.
Maßgebliche Rechtsnorm für die Feststellung des GdB ist § 152 SGB IX in der ab 01.01.2018 gültigen Fassung vom 23.12.2016 (§ 69 SGB IX a. F.).
Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Der Begriff der Behinderung im Sinne der genannten Vorschrift ist in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX legaldefiniert. Behindert sind danach Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Dabei stellt S. 2 das Erfordernis auf, dass der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.
Nach § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben der Gesellschaft als GdB nach Zehnergraden abgestuft festzustellen. Bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft, wird nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
Bei der Bemessung des GdB ist die GdS-Tabelle der Versorgungsmedizinischen Grundsätze - VMG (Teil A, S. 17 ff.) zugrunde zu legen.
Dies ergibt sich seit dem 01.01.2018 aus § 153 Abs. 2 in Verbindung mit § 241 Abs. 5 SGB IX (159 Abs. 7 SGB IX a.F.) wonach weiterhin die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend gelten, sofern das Bundesministerium für Arbeit nicht von der in § 153 Abs. 2 SGB IX geschaffenen Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung zur Aufstellung von Grundsätzen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind, Gebrauch gemacht hat.
Aus den allgemeinen Hinweisen zu der Tabelle (Teil A, S. 33) ergibt sich, dass die dort genannten GdS-Sätze Anhaltswerte sind. Es sind alle den Einzelfall betreffenden leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen und in der Regel innerhalb der in Nr. 2 e (Teil A, S. 20) genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut und Immunsystem; innere Sektion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf) zusammenfassend zu beurteilen. Dabei tragen die Beurteilungsspannen den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung (Teil B, Nr. 1 a, S. 33).
Die bei dem Kläger bestehende Paraspastik ist nach 3.1, insbesondere der in 3.1.1 und 3.1.2 VMG festgehaltenen Grundsätze zu bewerten. Der von der Beklagten hierfür festgesetzte GdB von 80 berücksichtigt die aufgrund der sich aus diesem Krankheitsbild ergebende Teilhabebeeinträchtigung in angemessenem und ausreichendem Maße.
Zwar ist der um größtmögliche Autonomie bemühte Kläger durch die bei ihm von Geburt an vorliegende bzw. geburtsbedingte Paraspastik in nahezu allen Alltagsverrichtungen schwer beeinträchtigt und auf Hilfe angewiesen. Insbesondere im Hinblick auf die feinmotorischen Fähigkeiten einschließlich der Schwierigkeiten beim Gehen und Stehen stellt sich die Beeinträchtigung als sehr ausgeprägt dar.
Allerdings sind die Beeinträchtigungen insgesamt nicht so ausgeprägt, dass sie einen höheren GdB als 80 rechtfertigen würden. Der Kläger ist insbesondere in der Lage einen PKW zu fahren, einen Beruf auszuüben und in einem geringen Umfang selbständig an der Gesellschaft teilzuhaben.
Hinweise darauf, dass sich die unter Punkt 2. der Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigte Hörbehinderung des Klägers verschlechtert haben könnte, ergeben sich nicht. Der Kläger hat sich auf eine solche auch nicht berufen.
Liegen wie im vorliegenden Fall mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so ist gemäß § 152 Abs. 3 S. 1 SGB IX der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Gemäß Teil A Nr. 3 der VMG dürfen die Einzel-GdB bei der Ermittlung des Gesamt-GdB nicht addiert werden. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist daher ausgehend von der Funktionsbeeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der hierdurch verursachten Behinderung durch weitere Funktionsbeeinträchtigungen gesteigert wird. Ist dies der Fall, ist der höchste Einzel-GdB entsprechend zu erhöhen, wobei entsprechend Teil A Nr. 3 der VMG unter Berücksichtigung sozialmedizinischer Erfahrungen Vergleiche mit Gesundheitsstörungen vorzunehmen sind, für die in den VMG feste GdB-Werte angegeben sind. Dabei ist zu beachten, dass gemäß Teil A Nr. 3 der VMG leichte Gesundheitsstörungen, die mit einem GdB von 10 zu bewerten sind, in der Regel nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung und damit in der Regel nicht zu einer Erhöhung des höchsten Einzel-GdB führen. Gleiches gilt mit Abstrichen auch für leichte Behinderungen mit einem Teil-GdB von 20.
Bei Anlegung des vorstehenden rechtlichen Maßstabes entspricht ein Gesamt-GdB von 80 insgesamt dem Leidenszustand des Klägers.
Der Kläger hat aber einen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs „aG“, da er unter einer außergewöhnlichen Gehbehinderung leidet.
Maßgeblich für die Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen ist bei der vorliegenden Anfechtungs- und Verpflichtungsklage die Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. hierzu Meyer-Ladewig et al, aaO., § 54 Rn 34 ff.) und somit die am 01.01.2018 in Kraft getretenen Regelung des § 229 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX). Diese bestimmt - inhaltsgleich mit der bis zum 31.12.2017 geltenden Regelung des § 146 Abs. 3 SGB IX a.F. - dass schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung sind, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht.
Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt nach der Legaldefinition des § 229 Abs. 3 Satz 2 SGB IX dann vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Nach Satz 3 der Vorschrift zählen hierzu insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung - dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen - aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind, wobei weitere, in Satz 4 der Vorschrift beispielhaft aufgeführte Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) sind nach § 229 Abs. 3 Satz 5 SGB IX als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleich kommt.
So liegt es hier, da sich der Kläger, auch wenn er nicht dauerhaft auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist, wegen der Schwere seiner Beeinträchtigung nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann und seine Beeinträchtigung der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleichkommt.
Der Kläger leidet unstreitig an einer spastischen Cerebralparese, welche mit einem GdB von 80 bewertet ist. Diese Parese betrifft nach den glaubhaften Angaben des Klägers hauptsächlich die Beine. Die Hände sind ebenfalls betroffen, jedoch im Vergleich zu den Beinen in geringerem Umfang. Diese Angaben werden gestützt durch die dem Verfahren zugrundeliegenden ärztlichen Befunde. Nach diesen vermag der Kläger lediglich mit gekrümmten Beinen unter Zuhilfenahme eines Rollators zu stehen und zu gehen. Dieses Bild hat sich im Übrigen auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung bestätigt.
Während er zum Zeitpunkt der letzten Bescheidung im Jahre 2008 noch in der Lage war, sich kurze Strecken ohne Rollator fortzubewegen, ist diese Fähigkeit nun nicht mehr vorhanden. Der Kläger ist außerhalb von Gebäuden sowie auch innerhalb von ihm unbekannten Räumlichkeiten nicht in der Lage sich ohne Rollator fortzubewegen. Lediglich im Rahmen ihm bekannter Räumlichkeiten kann der Kläger sich ohne dieses Hilfsmittel fortbewegen, indem er sich an Wänden und Einrichtungsgegenständen abstützt.
Dem Arztbrief der den Kläger behandelnden Neurologin Dr. G. vom 01.03.2016 lässt sich bereits für diesen Zeitpunkt entnehmen, dass der Kläger nach eigenen Angaben nicht mehr frei stehen kann. Seine Geh- und Stehfähigkeit habe sich verschlechtert. In ihrem Befundbericht vom 27.12.2017 beschreibt sie die Gehfähigkeit des Klägers als in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt. Der Kläger könne sich nur auf ständig gebeugten Beinen mit einer eingeschränkten Kraftentwicklung fortbewegen. Zusätzlich würden Gleichgewichtsstörungen bestehen, so dass die Benutzung eines Hilfsmittels in Form eines Rollators erforderlich sei. Er könne sich jedoch auch mit dem Rollator maximal 20 Meter vorwärts bewegen, bevor er eine Pause benötige. Wenn er diese Pause einige Minuten stehend verbringe, würde die anschließende Gehstrecke jeweils kürzer ausfallen als zuvor, so dass auch mit Pausen nach spätestens 100 Metern eine Pause im Sitzen notwendig würde, bevor er anschließend wieder eine kürzere Wegstrecke zu Fuß zurücklegen könne.
Der Kläger hat schriftlich vorgetragen und auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung noch einmal erläutert, dass er für längere Wegstrecken (etwa ab 200 Metern) einen Rollstuhl benötige. Dieser lediglich etwa 9 Kilogramm wiegende Rollstuhl sei ihm bereits vor Jahren verordnet worden. Weiterhin hat er anschaulich beschrieben, dass er nach einer kurzen Wegstrecke von längstens 50 Metern mit dem Rollator eine Pause benötige, weil er durch die von ihm vorzunehmende Gegenarbeit, bzw. Ausgleichsbewegungen gegen die Parese sodann unter starken Schmerzen und Brennen in den Füßen leiden würde. Allerdings könne eine vollständige Erholung von diesen Schmerzen bis zu einer halben Stunde in Anspruch nehmen und es bestehe die Besonderheit, dass das Absetzen auf dem Rollator bei ihm aufgrund der hierfür notwendigen Rückwärtsbewegung erschwert oder je nach Verfassung gar nicht möglich sei.
Arzttermine würde er aus diesem Grunde regelmäßig mittels Taxi wahrnehmen. Lebensmittel lasse er sich mittlerweile durch einen Lieferdienst bringen. Der Kläger könne sein Kraftfahrzeug nicht ohne Hilfsmittel verlassen und wieder in dieses zurückgelangen, das heißt, er sei darauf angewiesen sich an einer extra angebrachten Dachreling festhaltend langsam um das Auto herumzubewegen, um den Rollator oder Rollstuhl nach Betätigen der automatischen Kofferraumöffnung unter Zuhilfenahme eines hierfür installierten Ladekrans auszuladen.
Insofern liegt nach Überzeugung der erkennenden Kammer eine außergewöhnliche Gehbehinderung vor. Zwar ist der Kläger weder absolut gehunfähig noch vom Verlassen seines Kraftfahrzeugs an auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen, so dass die Voraussetzungen des Regelbeispiels des Abs. 3 S. 3 nicht vorliegen. Allerdings ist die Gehbehinderung des Klägers so ausgeprägt, dass er nicht in der Lage ist, außerhalb seines Fahrzeugs auch nur einen Schritt zu tun ohne sich entweder am Fahrzeug selbst oder am Rollator oder Rollstuhl festzuhalten, wobei jedoch insbesondere die Schwierigkeit der Durchführung von Erholungspausen sowie deren erforderliche Dauer zu der Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung führen.
Wäre der Kläger auf die Nutzung allgemeiner Parkflächen angewiesen, so müsste er die beispielsweise bei größeren Einkaufszentren oder größeren Veranstaltungen anfallenden Gehstrecken vom Kraftfahrzeug bis zum Eingang (häufig 100 Meter und mehr) mit mehrfachen Pausen bewältigen, wobei Sitzgelegenheiten selten vorhanden sind und ihm das Setzen auf den Rollator aufgrund der bestehenden Schwierigkeiten bei Rückwärtsbewegungen deutlich erschwert oder je nach Verfassung gar unmöglich ist.
Zudem besteht bei dem vorliegenden Krankheitsbild die Gefahr, dass er sich aufgrund einer zunehmenden Spastik in angemessener, bzw. ihm zumutbarer Zeit weder zum Auto zurück noch zum Ziel fortbewegen kann. Dies hätte zur Folge, dass der Kläger diese Ziele nicht allein mit seinem Auto erreichen könnte oder ggf. sogar ganz von diesen ausgeschlossen wäre. Genau diese Art von Nachteil im Vergleich zu einem nicht beeinträchtigten, bzw. nicht in dieser Form beeinträchtigten Menschen soll das begehrte Merkzeichen jedoch ausgleichen. Eine engere Auslegung des § 229 Abs. 3 SGB IX würde die Ziele des Sozialgesetzbuches nicht hinreichend berücksichtigen. Nach § 1 Absatz 1 SGB I sollen die Regelungen des Sozialgesetzbuches unter anderem dazu beitragen, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen zu schaffen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen. Nach § 2 Abs. 2 SGB I sind die sozialen Rechte bei der Auslegung der Vorschriften dieses Gesetzbuchs und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Hierzu gehören nach § 10 SGB I auch das Recht zur Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe und ein Recht auf Hilfe, die notwendig ist, um Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug von Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern, ihnen einen ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz im Arbeitsleben zu sichern, ihre Entwicklung zu fördern und ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern sowie Benachteiligungen auf Grund der Behinderung entgegenzuwirken.
Der Kläger hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass er als Jurist für das Jobcenter A-Stadt tätig sei und im Rahmen dieser Tätigkeit auch an Gerichtsterminen teilzunehmen habe. Dies sei ihm jedoch aufgrund fehlender Parkplätze regelmäßig erschwert.
Der Kläger sei auch unabhängig seines Berufslebens um eine größtmögliche Selbständigkeit bemüht, was jedoch aufgrund der Beeinträchtigung in vielen Alltagssituationen nahezu unmöglich sei.
Die Gewährung des Merkzeichens „aG" unterstützt den Kläger in der weiteren Ausübung seines Berufes, bzw. beseitigt eine sich ihm regelmäßig stellende nicht unerhebliche Problematik und eröffnet ihm die Möglichkeit seine selbständige und selbstbestimmte Lebensführung im Bereich der Teilhabe am sozialen Leben auszubauen. Diese durch das Merkzeichen erlangten Vorteile stellen sich mithin nicht weniger gewichtig dar, als für diejenigen Personengruppen, deren Gehvermögen komplett aufgehoben ist, denn er ist für jeden Großparkplatz und Arztbesuch ohne Patientenparkplatz potentiell auf eine Begleitung angewiesen, die ihn in der Nähe des Eingangs absetzt und sodann das Kraftfahrzeug einparkt.
Die Kammer berücksichtigt hierbei auch das Ziel des Gesetzgebers, den zur Verfügung stehenden sehr knappen Parkraum nur einer möglichst kleinen Personengruppe zu eröffnen. Denn die trotzdem stets vorzunehmende Einzelfallprüfung ergibt nach Überzeugung der Kammer im vorliegenden Fall, dass aufgrund der bei dem Kläger bestehenden Beeinträchtigungen, namentlich der beinbetonten Tetraspastik, der Gleichgewichtsstörungen und der lediglich sehr eingeschränkt durchführbaren Rückwärtsbewegung eine zu restriktive Anwendung des § 229 Abs. 3 SGB IX zu einer unzumutbaren Belastung, bzw. Einschränkung seiner Teilhabe führen würde.
Da der Kläger nach Auffassung der Kammer mithin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG" erfüllt, bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Frage, ob auch die Notwendigkeit eines Parkplatzes von besonderer Breite und Länge unter Beachtung des Gleichheitssatzes, bzw. des europarechtlich normierten Diskriminierungsverbotes die Zuerkennung des Merkzeichens „aG" begründen kann, nicht. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese Möglichkeit durch die ständige Rechtsprechung mit der Begründung verneint wird, dass die durch die Benutzung von Behindertenparkplätzen geschaffenen Vorteile vorrangig den Zweck erfüllen sollen, die Gehstrecke vom Kraftfahrzeug bis zum Ziel auf das Möglichste zu verkürzen und nicht das Ein- und Aussteigen zu erleichtern, bzw. zu ermöglichen. Es sei jedoch auch darauf hingewiesen, dass in den entsprechenden Entscheidungen stets auf die Möglichkeit der jeweiligen Kläger hingewiesen wurde, ihr Fahrzeug mit Schiebetüren zu versehen. Vorliegend hat der Kläger durch Vorlage von Kostenvoranschlägen verschiedener Fahrzeugausrüster dargelegt, dass ihm von einer Verladung des Rollators, bzw. des Rollstuhls durch eine Schiebetür oder Flügeltüren aufgrund der bei dem Kläger vorliegenden Sturzgefahr bei den hierfür erforderlichen Bewegungen abgeraten wird. In diesem Punkt unterscheidet sich der vorliegende Fall mithin von den bisher hierzu entschiedenen Fällen.
Soweit der Kläger hilfsweise eine Bescheinigung im Sinne einer Ausnahmegenehmigung für Parkerleichterungen begehrt (sog. „aG-light"), ist der Kläger darauf hinzuweisen, dass hierfür ein entsprechender Antrag bei der Straßenverkehrsbehörde einzureichen ist. Denn nach § 6 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i. V. m. § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO) und der hierzu ergangenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VwV) obliegt der Vollzug bzw. die Erteilung entsprechender Ausnahmegenehmigungen nicht der Versorgungsverwaltung bzw. dem Beklagten in seiner Eigenschaft als Sozialbehörde, sondern den Straßenverkehrsbehörden, deren Entscheidungen ggf. von den Verwaltungsgerichten zu überprüfen sind. Insoweit ist eine Klage vor den Sozialgerichten bereits unzulässig (vgl. § 51 Abs. 1 SGG). Dem Kläger fehlt bereits ein Rechtsschutzbedürfnis, da kein Antrag bei der zuständigen örtlichen Straßenverkehrsbehörde gestellt wurde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).